Tuesday, November 10, 2009

Farockis Hand

Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1989)
Aufschub (2007)

Einige Minuten nachdem Harun Farocki in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges die von Mitgliedern der SS augenommene Fotografie einer Frau, die in Ausschwitz an der Kamera vorbei in den Tod geht, ausführlich analysiert hat, taucht sie noch einmal kurz im filmischen Bild auf. Farocki durchblättert einen Fotoband, in dem das Bild enthalten ist. Als er die entsprechende Seite aufschlägt, bewegt sich seine Hand fast reflexartig über die Fotografie. Die Geste schließt nicht nur an eine andere im Film an, die den für kolonialistische Bildpraxis abgelegten Schleier algerischer Frauen erst reinstalliert, dann invertiert, vor allem ist sie eine ethische Bezugnahme auf das Bild, ein Bild, das zumindest in diesem Kontext (Fotoband) einer solchen Geste bedarf. Dieses Bild darf (so) nicht sein. Die Hand hat meine eigene Regung gestisch adäquat aufgegriffen: Will man im Kino den Bildern entfliehen, kann man entweder die Augen schließen, oder die Hand vor die Augen bewegen.
Diese Szene bedeutet auch: Solange man Hände hat und Augen, die man schließen kann, ist man dem Bild im Kino eben nicht hilflos ausgeliefert. Und: Solange man einen Körper und einen Geist hat, kann man sich auch nicht aus der Verantwortung stehlen, sich zu den Bildern, die vor einen projiziert werden, ethisch zu verhalten.

In Aufschub ist keine Autorenhand vorhanden. Quasigestische Bezugnahmen des Autors auf die fürchterlichen Bilder gibt es aber durchaus. Diese Bezugnahmen sehen zunächst aus wie das exakte Gegenteil zur Geste aus Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Zwischentitel und Bildmanipulationen wie Standbilder verdecken nicht, sondern funktionieren wie ein Zeigefinger, der nicht immer das offensichtliche, aber auch nicht einfach nur iregnd etwas, sondern das fürs Argument des Autors entscheidende auswählt. Fürchterlich ist an den Bildern nicht das, was der Zeigefinger auswählt, sondern die reine Macht des Indexikalischen, der Abdruck einer Wirklichkeit, in der der Schrecken als gerade-noch-abwesender präsenter ist, als er als direkt anwesender jemals sein könnte. Intensiviert Farocki den grausamen Index einfach nur in seinen Zusätzen zum Bild, wenn er zum Beispiel eine Einstellung, die einen anfahrenden Zug in Richtung Vernichtungslager zeigt, exakt dann anhält, wenn einer der Abtransportierten zum Abschied aus dem Fenster winkt? Ich glaube: nein. Uneditiert und -kommentiert wäre der Index reiner und auf eine fragwürdige Art und Weise kraftvoller, dekontextualisiert würde der Index zum Special Effect, potentiell auch zum Objekt eines wohligen Schauderns: KZ-Alltag als Geisterbahn.
Der Zeigefinger distanziert aber auch nicht, zumindest nicht in erster Linie. In erster Linie ist er eine andere Art ethischer Bezugnahme aufs Bild. Und in diesem Sinne eher komplementär zu als unvereinbar mit der Hand, die vors Bild geschoben / vor die Augen geschlagen wird.

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