Monday, August 15, 2016

Locarno International Film Festival 2016: Mädchen in Uniform, Leontine Sagan / Geza von Radvanyi, 1931 / 1958

Sonderbar, wie welterschütternd unterschiedlich sich die beiden Filme anfühlen. Dabei liegt lediglich eine Generation zwischen ihnen (eine Generation Soldatenmütter allerdings...), und in den Dialogen, in der Szenenfolge, teils auch in Bildideen liegen sie sehr nah beieinander. Die einzige dramaturgisch schwerwiegende Differenz dürfte darin bestehen, dass Radvanyi die lesbische Liebesgeschichte zu einem Eifersuchtsdreieck ausbaut, was wunderbar funktioniert, insbesondere in der ersten klimaktischen Szene bei und nach der Theaterpremiere - die, eine weitere kleine Intervention, nicht mehr Don Karlos, sondern Romeo and Julia zur Aufführung bringt, auch das ist eine gute Idee, glaube ich.

Was sich allerdings komplett verändert hat: die Bildpolitik. Das Verhältnis von Bildraum und Körper, von On zu Off, von Individuum zu Gruppe. Komplett verschwunden ist in der 58er-Version alles dokumentarnah Beobachtende, insbesondere gibt es nicht mehr die das wilde, drängende, der gepredigten Zucht und Ordnung gegenüber exzessive Miteinander der Mädels eher aufzeichnenden als konstruierenden Totalen (sowie diese langsamen Schwenks, die einen in ihrer gefräßigen Bewegung neugierig machen auf die Attraktionen, die noch nicht, aber gleich in ganzer Pracht Bild werden). Anders herum gibt es auch nicht mehr die Mannigfaltigkeit des Details. Keine Großaufnahmen mehr, die entschlossen und immer etwas willkürlich eine unter vielen Attraktionen isolieren, und die das chaotisch blühende Leben im verschmierten, glücklichen Gesicht eines schokoladeessenden Mädchens aufscheinen lassen.

Statt dessen dominieren 1958 im Dekor und in der Bildsprache klare Linien, größtmögliche Klarheit und Reduktion. Man kann glaube ich Szene für Szene durchgehen und zeigen, wie Radnayi fünf, sechs Ideen von Sagan in jeweils einer einzigen, isolierten filmischen Geste verdichtet. Plansequenzen und travellings konturieren den Schauplatz - als, so der Dialog: Zitadelle (ein Wort, das im ersten Film nicht fällt). Deren Schrecken allerdings wenig mit Waffengewalt zu tun hat als mit Abstraktion. Das Treppenhaus ist kein plötzlich gähnender Höllenschlund mehr wie 1931, sondern eine geometrisch präzise Mausefalle, die der Hauptfigur schon früh im Film "gestellt" wird (und das beschreibt auch gut die Differenz im Verhältnis der beiden Manuelas zu ihrer jeweiligen Libido). Das 1931 wild in den Bildraum hinein sprudelnde Leben zieht sich 1958 ganz in das freilich außerordentlich artikulierte Seelenleben der Mädchen und Frauen zurück.

Das betrifft selbst und erst recht Körperlichkeit. Bei Sagan schwärmen die Mädels von Hans Albers' Sex Appeal und erfreuen sich an ihren "dollen Körpern" so sehr, dass sie sich einmal sogar gegenseitig die Blusen platzen lassen. Bei Radvanyi geht alles Leibliche in Bewegungspattern und Blickwechseln auf.

Noch sonderbarer, dass ich zwar beide Versionen liebe, mir die von 1958 aber doch etwas besser gefallen hat. Ich glaube schon, dass ich anhand der Filme zeigen könnte, warum. Die absolute Kontrolle über den Bildraum hat bei Radvanyi nichts mit Sadismus zu tun, sondern mit Einfühlung und Neugierde, es geht nicht um die formale Verdopplung von Klaustrophobie, sondern um psychologische Verstricktheiten.

Aber es wird auch etwas damit zu tun haben, dass ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr einfach nur zur urwüchsigen Klassik, sondern noch mehr zum Klassizismus, zur Herrschaft der Mise-en-scne hingezogen fühle. Viva il calligrafismo!

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